Armutsfester Sozialstaat

© Franz Gleiß
Armut im Regierungsprogramm:
Sicheres Netz oder neue Lücken?
Steigende Inflation, Wohnungsnot und neue Reformpläne – wie stark bleibt das soziale Netz in Österreich? Der Sozialstaat ist eine der größten Errungenschaften der letzten 100 Jahre. Er hilft nicht nur jenen, die ihn brauchen, sondern sichert auch den sozialen Ausgleich und den Zusammenhalt der Gesellschaft. Doch was bedeutet das neue Regierungsprogramm für armutsgefährdete Menschen?
Übersicht:
Sozialhilfe
Die Sozialhilfe ist das letzte soziale Netz und muss es auch bleiben. Nach der Corona und Teuerung muss sie dringend reformiert und armutsfest gestaltet werden. Kommen jetzt dringend benötigte Reformen oder werden die Ärmsten der Gesellschaft weiter unter Druck gesetzt?
Regierungsprogramm
- Bundesweit einheitliche Richtsätze für Personen in der Sozialhilfe.
- Künftig wird zwischen arbeitsfähigen und nicht-arbeitsfähigen Personen unterschieden; mit neuen Zuständigkeiten zwischen Arbeitsmarktservice (AMS) und Bezirkshauptmannschaften.
- Bundesweit gekürzte Richtsätze in der Sozialhilfe für „Arbeitsfähige“: Statt 1.209 nur noch 960 Euro, um Miete, Strom und alltäglichen Lebensbedarf zu decken.
- Massive Kürzung der Kinderrichtsätze für Arbeitsfähige: Noch beträgt der Kinderrichtsatz je nach Bundesland zwischen 241 und 386 Euro für das erste Kind. Künftig soll er sich für Arbeitsfähige am Arbeitslosengeld orientieren: nur noch rund 30 Euro pro Kind im Monat.
- Streichung der Familienbeihilfe für alle Sozialhilfebezieher*innen: Für Kinder unter 3 Jahren beträgt die Familienbeihilfe rund 200 Euro – sie fällt für Sozialhilfebezieher*innen weg.
- Die Familienbeihilfe soll für alle Sozialhilfebezieher*innen gestrichen werden – ein Verlust von etwa 200 Euro monatlich pro Kind.
- Wartefrist für Sozialhilfe für bestimmte Gruppen.
Unsere Position
Die geplanten Änderungen der Sozialhilfe machen uns große Sorgen. Besonders trifft es arbeitsfähige Personen, die gleich dreifach von massiven Kürzungen bedroht sind
- durch die Kürzung der Richtsätze für arbeitsfähige Erwachsene um mehr als 200 Euro monatlich
- durch die massive Kürzung der Kinderrichtsätze in der Sozialhilfe auf rund 30 Euro im Monat,
- durch die Streichung der Familienbeihilfe für Sozialhilfebezieher*innen und den Verlust von mindestens 200 Euro monatlich pro Kind.
Die Verschlechterungen summieren sich zu einer existenziellen Bedrohung für Personen und Familien. Die Gefahr, in die Verschuldungsfalle zu geraten, wächst – Schulden und Lohnpfändungen erschweren aber die erfolgreiche Rückkehr in den Arbeitsmarkt. Es ist zudem unklar, wie ‚arbeitsfähig‘ verstanden wird, denn es gibt z.B. temporäre Phasen der Arbeitsfähigkeit – etwa durch Krankheit, Pflege- oder Betreuungsaufgaben.
Die geplante Aufteilung der Zuständigkeiten zwischen AMS und Bezirkshauptmannschaften kann die Integration in den Arbeitsmarkt verbessern, kann aber genauso zu mehr Komplexität statt zu Vereinfachung führen. Zwei Anlaufstellen statt einer erschweren in der Regel nämlich den Zugang. Das muss also klug umgesetzt werden.
Besonders kritisch ist die Streichung der Familienbeihilfe: Eine universelle Leistung, die allen Eltern und Kindern zusteht, soll ausgerechnet jenen entzogen werden, die sie am dringendsten brauchen. Das benachteiligt Kinder aus armutsgefährdeten Haushalten massiv.
Die avisierte Wartefrist ist rechtlich fragwürdig und sozial problematisch. Es ist für österreichische Staatsangehörige und (ihnen rechtlich gleichgestellte) Asylberechtigte im bedarfsorientierten System der Sozialhilfe nicht zulässig, nach Aufenthaltsdauer zu differenzieren. Für EU-Bürger*innen und Drittstaatsangehörige gilt ohnehin eine 5-jährige Wartefrist.
Was es (mehr) braucht
Eine grundlegende Reform der Sozialhilfe ist dringend erforderlich. Die Sozialhilfe muss das letzte soziale Auffangnetz bleiben. Dazu sollten gehören:
- Bedarfsorientierte Mindestsätze in der Sozialhilfe
- Existenzsichernde Kinderrichtsätze in ganz Österreich
- Eine Wohnbedarfsregelung, die reale Mietkosten abbildet und andere Wohnbeihilfen nicht anrechnet
- Eine zentrale Anlaufstelle (One-Stop-Shop) für alle Belange der Sozialhilfe: Es braucht für die Antragstellung und Abwicklung eine Zuständigkeit und eine Ansprechperson pro Haushalt, der Sozialhilfe bezieht, auch wenn die operative Zuständigkeiten zwischen AMS und Bundesländern aufgeteilt wird
- Maßnahmen zur Arbeitsmarktintegration durch Unterstützung statt Kürzung auf dem Rücken der Ärmsten: Qualitativ und personell besser ausgestattetes AMS mit sozialarbeiterischer Expertise zur (Re-)Integration in den Arbeitsmarkt. Neben zielgruppenspezifischen Programmen können Lohnkostenzuschüsse für Unternehmen, die Menschen mit Sozialhilfebezug eine neue Chance bieten, sinnvoll sein.
Beschäftigung
Was bedeutet das Regierungsprogramm für Arbeitslose? Während Reformen ausbleiben, verschärfen sich die Hürden für den Zuverdienst – gerade für Menschen, die einen Wiedereinstieg in den Arbeitsmarkt suchen.
Regierungsprogramm
- Im Regierungsprogramm ist keine Reform des Arbeitslosengeldes vorgesehen. Es findet sich auch kein Passus zur Erhöhung oder Valorisierung der Notstandshilfe.
- Der Zuverdienst zum Arbeitslosengeld soll eingeschränkt werden auf bestehenden Zuverdienst und ältere Personen, für Langzeitarbeitslose gibt es eine Befristung auf 6 Monate. Für alle anderen ist kein Zuverdienst mehr möglich.
- Im Regierungsprogramm sind zusätzliche Mittel für das Arbeitsmarktservice vorgesehen und eine Aktion 55 PLUS, um älteren arbeitslosen Menschen eine Perspektive zu bieten.
Unsere Position
Wir befürworten selbstverständlich Maßnahmen um Menschen schnell wieder in das Erwerbsleben zu bringen, daher ist die Unterstützung des AMS mit zusätzlichen Mitteln ein wichtiger und richtiger Schritt, ebenso wie gezielte Angebote für ältere Arbeitslose. Auch die steigende Jugendarbeitslosigkeit wird adressiert.
Gleichzeitig ist es nicht allen Menschen möglich, (rasch) wieder in das Erwerbsleben zurückzukehren – das hat für viele gesundheitliche und soziale Gründe. Es sind Menschen, denen wir täglich in unseren Sozialberatungsstellen helfen. Zudem erleben wir aktuell eine Rezession, die die Jobsuche zusätzlich erschwert.
Besorgniserregend ist, dass trotz der Krisen und der hohen Inflation in den letzten Jahren Arbeitslosengeld und Notstandshilfe nie valorisiert wurden. Vor allem Bezieher*innen von Notstandshilfe mussten mitunter enorme Wertverluste hinnehmen. Diese Korrektur ist vor allem für langzeitbeschäftigungslose Menschen und Bezieher*innen der Notstandshilfe dringend erforderlich.
Die geplante Einschränkung des Zuverdienstes trifft jene, die einen Wiedereinstieg suchen – etwa Menschen mit Betreuungspflichten, Alleinerzieher*innen oder Menschen mit Behinderungen. Hier braucht es Ausnahmen, um Arbeitsmarktintegration nicht zu erschweren, sondern zu fördern.
Was es (mehr) braucht:
Eine Reform von Arbeitslosengeld und Notstandshilfe ist überfällig:
- Das Arbeitslosengeld inkl. aller Familienzuschläge muss auf ein armutsfestes Niveau unter Beibehaltung der Notstandshilfe angehoben werden.
- Arbeitslosgengeld und Notstandshilfe müssen valorisiert werden, eine Wertsicherungsklausel soll diesen Schritt für die Zukunft sicherstellen.
- Geringfügige Zuverdienstmöglichkeiten müssen für bestimmte Personengruppen und langzeitbeschäftigungslose Menschen erhalten bleiben. Es sollte hier schnell ein Expertengremium einberufen werden, um Ausnahmeregelungen für den Zuverdienst zu erarbeiten.
Geschlechtergerechtigkeit und Frauenarmut
Unfaire Bezahlung, kein Halbe-Halbe in Haushalt und Kinderbetreuung, Pensionslücke - weiterhin sind Frauen in der Gesellschaft vielfach benachteiligt, deshalb auch häufiger von Armut betroffen. Gelingen endlich wirksame Schritte – oder werden Frauen weiter vertröstet?
Regierungsprogramm
- Hier finden sich grundsätzliche Bekenntnisse zur Stärkung von Frauen und zum Aufbrechen von Geschlechterstereotypen, Gleichstellungsziele sollen erarbeitet werden.
- Gender Budgeting soll weiter gestärkt und die Datenlage (zum Beispiel über Alleinerzieherinnen) verbessert werden.
- Ein Fokus soll auf Finanz- und Wirtschaftsbildung für Frauen gelegt werden. Besonderes Augenmerk gilt der Information über Altersabsicherung und die Vorteile von Vollzeitarbeit.
- Verbessern soll sich die Vereinbarkeit von Familie und Beruf. Maßnahmen zur besseren Heranführung von Frauen mit Betreuungspflichten an den Arbeitsmarkt werden geprüft; ein Paket zum Ausbau von Kinderbildungs- und Betreuungseinrichtungen ist angekündigt.
- Die Rahmenbedingungen für die partnerschaftliche Aufteilung von Kinderbetreuung sollen verbessert, die Väterbeteiligung gestärkt werden. Dazu soll es eine Arbeitsgruppe zur Erarbeitung von Modellen und bewusstseinsbildende Maßnahmen geben.
- Die EU-Richtlinie zur Lohntransparenz soll umgesetzt werden.
- Ab 2026 soll ein Unterhaltsgarantie-Fonds unterstützen, wenn Unterhaltszahlungen ausbleiben.
Unsere Position
Die von der Koalition avisierten Verbesserungen sind gute Ansätze, bleiben aber meist vage. Die Bekenntnisse sind richtig, aber ohne konkrete Maßnahmen bleiben sie Absichtserklärungen. Umso wichtiger wird es sein, Ziele und Maßnahmen zu konkretisieren und vor allem budgetär zu priorisieren.
Die Umsetzung der EU-Richtlinie zur Lohntransparenz macht Gehaltsunterschiede sichtbar, erleichtert Beschäftigten das Recht auf gleiches Entgelt durchzusetzen und ist ein wichtiger Schritt gegen die Diskriminierung von Frauen am Arbeitsmarkt. Damit lässt sich der in Österreich besonders hohe Gender Pay Gap (Österreich 18,3 %, EU-Durchschnitt 12 %) hoffentlich erfolgreich reduzieren.
Positiv ist auch der Fokus auf Finanzbildung – doch ohne faire Rahmenbedingungen und gerechte Verteilung von Care-Arbeit bleibt wirtschaftliche Unabhängigkeit für viele Frauen unerreichbar.
Mit dem geplanten Unterhaltsgarantie-Fonds wird ein wichtiger Schritt zur Unterstützung von Frauen- und Kindern umgesetzt. Nachhaltiger wäre eine echte Unterhaltsgarantie, also die Auszahlung unabhängig von der Zahlungsfähigkeit des/der Unterhaltspflichtigen.
Was es (mehr) braucht
- Eine umfassende Reform des Kinderbetreuungsgeldes, die Halbe-Halbe rechtlich absichert
- Effektive Maßnahmen gegen weibliche Altersarmut, wie die Erhöhung der Ausgleichszulage
- Anrechnung von Care-Arbeit in der Pensionsberechnung
Kinderarmut
Die Kinderarmut zu halbieren ist ein ambitioniertes Ziel. Bleibt es bei einem Versprechen oder gibt es einen klaren Fahrplan?
Regierungsprogramm
- Die Regierung bekennt sich zum Ziel, die Kinderarmut in Österreich zu halbieren. Es soll erreicht werden durch Schritte zu einer Kindergrundsicherung (2-Säulen-Modell):
- Ausbau von Sachleistungen für die psychosoziale Gesundheit, Ausbau der Kinderbetreuung und ‚gesunde Jause‘
- Evaluierung und Optimierung von Transferleistungen wie Familienbeihilfe, Reduktion des Anteils der Nichtinanspruchnahme und Herauslösen der Kinder aus der Sozialhilfe zugunsten einer einheitlichen einkommensabhängigen Leistung
- Der ab 2026 geplante Unterhaltsgarantie-Fonds wirkt auch gegen Kinderarmut.
Unsere Position
Das Bekenntnis zur Halbierung der Kinderarmut und das 2-Säulen-Modell sind wichtige Schritte. Das soll durch sowohl finanzielle Leistungen (Kindergrundsicherung), als auch durch den Ausbau der psychosozialen Versorgung für Kinder und Jugendliche erreicht werden. Die Pläne bleiben aber sehr unkonkret, stehen zusätzlich unter Budgetvorbehalt.
Beim entscheidenden Punkt – dem Ersatz der bisherigen Kinderleistungen in der Sozialhilfe durch eine einkommensabhängige Kindergrundsicherung – finden sich kaum Details. Hier ist das Regierungsprogramm zum Teil widersprüchlich. Zum einen wird bei Kindern in der Sozialhilfe massiv gekürzt, auf der anderen Seite soll Kinderarmut halbiert werden. Nimmt man das Ziel ernst, muss die Reform der Sozialhilfe unbedingt Hand in Hand mit der Einführung der Kindergrundsicherung gehen. Die Ankündigung einer Kindergrundsicherung darf keine Kürzungen in der Sozialhilfe rechtfertigen. Die beschriebene Kinderbetreuungsoffensive und der Unterhaltsgarantie-Fonds sind besonders positiv hervorzuheben und wichtige Schritte im Kampf gegen Kinderarmut.
Was es (mehr) braucht
Um ein ambitioniertes Projekt wie die Kindergrundsicherung in Angriff zu nehmen, braucht es mehr als ein Bekenntnis der Politik.
- Notwendig sind ausreichende budgetäre Mittel und ein verbindlicher Zeitplan. Es braucht möglichst rasch eine Expert*innengruppe und einer Umsetzungsstudie im Sozialministerium unter Einbindung von Trägerorganisationen, um Details zu erarbeiten.
- Die Reform der Sozialhilfe darf in der Umsetzung nicht von der Einführung einer Kindergrundsicherung entkoppelt werden, es muss gemeinsam angegangen werden.
- Neben den Schwerpunkten psychosoziale Gesundheit und Kinderbetreuung sollten die Bereiche soziale Teilhabe und Freizeitgestaltung Niederschlag in der Kindergrundsicherung finden.
Wohnen
Wohnen ist in Zeiten explodierender Mietkosten gerade für armutsgefährdete Menschen eine große Sorge. Nimmt sich die Regierung des Themas endlich an?
Regierungsprogramm
- Zweckwidmung der Wohnbauförderung
- Vergabe ausfinanzierter gemeinnütziger Wohnungen nach sozialer Dringlichkeit
- Ausweitung der Befristung von 3 auf 5 Jahre
- Mietpreisdeckel und neue Indexierungsklausel ab 2027
- Vergabe öffentlicher Grundstücke für geförderten Wohnbau, soziale Einrichtungen, etc.
- Grundsätzliches Bekenntnis zu Housing First in der Wohnungslosenhilfe
Unsere Position
Grundsätzlich sind die Vorhaben positiv zu bewerten, das gilt insbesondere die Maßnahmen, die die Preisentwicklung bei Mieten dämpfen. Weitere Ansätze für mehr leistbaren Wohnraum gehen in die richtige Richtung.
Was es (mehr) braucht
Der Mietpreisdeckel gilt nicht für Neubauten und freie Mieten – eine große Lücke, die viele Betroffene hart trifft. Da rund 70% der armutsgefährdeten Personen zur Miete wohnen, ist eine Ausweitung der preisdämpfenden Maßnahmen notwendig.
Das Konzept Housing First gegen Obdachlosigkeit braucht eine langfristige Finanzierung und Ausrollung eines bundesweiten Programms. Die ersten Ansätze sind jedoch zeitlich befristet – so fehlen längere Perspektiven.
Ohne finanzielle Unterstützung bei Kautionen bleiben Genossenschaftswohnungen für viele armutsbetroffene Haushalte unerreichbar, ein Kautionsfonds kann Abhilfe schaffen.
Energie
Die Energiepreise steigen wieder – ob für Strom oder Gas. Was tut die Regierung?
Regierungsprogramm
- Hier findet sich die Absicht, einen Sozialtarif für den Bereich Strom umzusetzen.
- Die Vereinfachung der Energierechnungen und die Option auf monatliche Abrechnungen sollen mehr Transparenz beim Energieverbrauch schaffen und massive Nachzahlungen verhindern.
Unsere Position
Beide Vorhaben werden als langjährige Forderungen der Caritas begrüßt.
Was es (mehr) braucht
So gut das Bekenntnis zu einem Sozialtarif für Strom (vgl. a) ist, er muss angesichts der aktuellen Steierungen von Energiekosten rasch umgesetzt werden. Unser Vorschlag zur Fortführung der Strompreisbremse für armutsbgefährdete Haushalte liegt am Tisch.
Für den Bereich Wärme vermissen wir im Regierungsprogramm das Vorhaben, eine bundesweit einheitliche Unterstützungsangebote auszurollen.
Weitere Infos
Mehr zu unseren Forderungen an die Politik im Bereich "Armut"